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Digitalisierung unter Tage - Wie das Abwasserwerk Bergisch Gladbach ein Leck dichtet, Kosten von zwei Millionen Euro vermeidet und die Kanalisation „intelligent“ macht

Digitalisierung unter Tage - Wie das Abwasserwerk Bergisch Gladbach ein Leck dichtet, Kosten von zwei Millionen Euro vermeidet und die Kanalisation „intelligent“ machtBild vergrößern

Im Bergisch Gladbacher Stadtteil Herkenrath stieß die Leistungsfähigkeit der Schmutzwasserpumpstation „Siefer Hof“ an ihre Grenzen. Immer wieder kam es zu Überlastungen, welche rein bemessungstechnisch nicht sein durften. Die Überprüfung der Entwässerungsanlagen, der Pläne und Berechnungen ergab allerdings keine Hinweise.

Teurer Neubau oder langwierige Instandsetzung?

Das einfachste Mittel, um der festgestellten Mengen Herr zu werden, wäre ein Ausbau beziehungsweise Neubau der für das Gebiet zuständigen Pumpstation und Ableitungskanäle gewesen. Allein der Bau wurde mit circa zwei Millionen Euro veranschlagt, von den Folgekosten für die Abwasserreinigung ganz zu schweigen. Deshalb suchte das Abwasserwerk zunächst nach dem Grund.

Die überhöhten Zulaufwerte legten die Vermutung nahe, dass vor allem Fremdwassereinleitungen die Ursache des Problems waren. Versuche, die Einlaufstellen mit Kamerarobotern, über Färbungen oder Nebel zu orten waren nur zum Teil erfolgreich und recht aufwändig. Ihr größter Schwachpunkt: Alle diese Methoden erstellen nur Momentaufnahmen. Um zweifelsfrei die Gründe für die Pumpwerksüberlastung festzustellen, wäre bei den „klassischen“ Methoden ein langfristiger und damit teurer Personaleinsatz notwendig.

Das Abwasserwerk suchte nach einem Verfahren, um mit gesundem Aufwand und im Hinblick auf die zukünftigen Gebührenbescheide die Verursacher zu finden. Dank der hier gültigen Abwasser-Satzung war auch die juristische Voraussetzung gegeben, um sozusagen detektivisch vorzugehen.

Genaues Identifizieren des Verursachers heißt sehr genaues Messen der Durchflussmengen

Die technische Frage lautete: Wie kann ein geeignetes Verfahren hier aussehen? Dazu wurde beim Abwasserwerk Recherchen betrieben, die sich in Richtung Geophysik bewegten. Hierbei werden zum Beispiel Temperaturdifferenzen mittels Glasfaserkabel gemessen, um Leckagen festzustellen – das Verfahren wird bereits seit längerer Zeit im Deichbau angewendet.

Nach Klärung der Einsetzbarkeit für den Abwasserbereich wurde mit der Firma OSSCAD ein Partner gefunden und beauftragt, das Pilotverfahren für Bergisch Gladbach durchzuführen. Der Kontakt kam über die städtische Wirtschaftsförderung zustande.

OSSCAD ist auf Messungen per Glasfaserkabel spezialisiert, mit denen zum Beispiel in der Erde verlegte Hochspannungskabel überwacht werden können. Eine ähnliche Technologie lässt sich auch für Kanalisationssysteme nutzen und kam im Testgebiet zum Einsatz: ein Glasfaserkabel mit speziellem Aufbau, welches robust und wasserdicht ist. Mit einem Querschnitt von lediglich 6 x 3 Millimeter kann das Kabel in den Kanalisationsrohren montiert werden, ohne den Durchfluss zu verändern und damit die Messergebnisse zu verfälschen. Gemessen wurde die Temperatur des Abwassers. Die hochfeine Sensorik erfasst Temperaturunterscheide bis zu 0,1 Grad Kelvin. Dabei wird die sogenannte Raman-Streuung genutzt, für die der Physiker C.V. Raman 1930 den Nobelpreis bekam. Alle 10 Zentimeter und alle 10 Sekunden wurde gemessen – eine beachtliche Menge von Daten. Unter Einsatz eines optischen Radars und OTDR (optische Zeitbereichsreflektometrie) konnten dabei kleinste Veränderungen erkannt werden. Im Testzeitraum von 6 Wochen kamen 90 Millionen Ergebnisse zusammen, insgesamt 30 Gigabyte. Ein sogenannter Datenlogger, der im Pumpenhaus stand und dort mit Strom versorgt wurde, speicherte die Informationen. Die früher notwendige Handarbeit wird so zur Rechnerleistung.

Erste Pilotphase zu trocken

Ein Kanalinspektionsfahrzeug, gesteuert per Kamera, zog das Kabel in die Rohre ein, die Befestigung an der Kanalsohle erfolgte durch die Mitarbeiter des Abwasserwerks. Für die gesamte Teststrecke von etwa 600 Metern waren dafür lediglich 3 Stunden nötig. Der erste Testbetrieb ergab allerdings keine verwertbaren Ergebnisse – es war zu heiß und trocken im Sommer 2018!

Ohne Niederschlag kam es auch nicht zu den Fremdwassereinleitungen, ohne Daten keine Lokalisierung. Deshalb wurden im Herbst zwei weitere Wochen pilotiert, und das Wetter spielte mit. Schon im ersten Testbetrieb wurde eine Trefferquote der Fehleinleitungen von 95% erzielt. Die fehlenden 5 Prozent verursachte eine Kanalschachtabdeckung, in die wegen ihrer Lage bei starkem Regen doch Wasser lief.

Interpretation ermöglicht Lokalisierung

Die 90 Millionen Messdaten wurden in Graphen umgewandelt und dann ausgewertet, eingeteilt nach eindeutiger, wahrscheinlicher und einmaliger Einleitung. Die Auswertung erfolgte in Korrelation mit den Wetterereignissen und Niederschlagsmengen. Alle Temperaturausschläge nach oben oder unten deuten auf Veränderungen des Abwassers hin und sind Indikatoren für Einleitungen. Damit lässt sich genau identifizieren, wann wieviel und wie lange Wasser in die Kanalisation eingeleitet wurde.

Ein einfaches Beispiel: Das morgendliche Duschen zum Beispiel macht sich mit einer Erhöhung der Wassertemperatur um wenige Grade auch noch in der Kanalisation bemerkbar. Drainagen wiederum geben Wasser nach einem Regen langsamer ab, Pumpstöße sind sofort erkennbar. Da die Einleitungsstellen bis auf 10 Zentimeter genau zu lokalisieren waren, standen auch die Verursacher schnell fest. Generell waren alle Anwohner sehr einsichtig aufgrund der Beweislage.

Für das Abwasserwerk Bergisch Gladbach war das Pilotprojekt so überzeugend, dass es die Messkabel direkt gekauft hat. Bei fachgerechtem Einsatz gebt es nahezu keinen Verschleiß, Schnittstellen können sogar repariert werden.

Zukünftiges Konzept

Das Projekt war sehr erfolgreich in mehreren Hinsichten. Zunächst war das untersuchte Gebiet überschaubar und gleichermaßen geeignet groß, um verschiedene Ursachen und Zusammenhänge zu lernen. Der Aufwand und damit die Kosten, das Kontrollsystem zu installieren und zu betreiben, sind sehr überschaubar. Ab etwa 30 bis 40 Häusern (Anschlussstellen) ist das Kontrollsystem schon rentabel. Die gesamte Infrastruktur lässt sich einfach aufsetzen: Die Glasfaser-Messkabel sind schnell montiert, der Anschluss des Datenloggers kann im vorhandenen Pumpenhaus, sicher und mit Strom versorgt, erfolgen. Das System ist leicht ausbaufähig. Der Datenlogger kann mit einem Gateway versehen werden, um die Daten direkt in ein Netzwerk zu routen. So lässt sich auch per Ferndiagnose alles im Blick behalten. Durch die Zusammenführung der Ergebnisse – Stichwort Big Data – können neue Erkenntnisse über die Nutzung und Auslastung von Kanalisationen gewonnen werden, mit denen sich weitere Perspektiven und Optimierungen ergeben. Auch andere Anwendungsbeispiele liegen nahe: Mittels Glasfaser lassen sich Druck und Schalle ebenso messen wie jetzt Temperatur, Geothermie, Brandschutz, Sicherheitsüberprüfungen auf Deponien – die Einsatzmöglichkeiten sind sehr zahlreich.

Für das Abwasserwerk Bergisch Gladbach war die Schlussrechnung sehr simpel: Statt zwei Millionen Euro plus hoher Folgekosten wurden weniger als 25.000 Euro für die Hardware und die Ingenieurleistungen investiert. So können größere Kanalisationsnetzwerke sehr einfach, schnell und wirtschaftlich untersucht werden.